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„Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war ...“
Psalm 139,16

Für die Unteilbarkeit und Unverlierbarkeit der Menschenwürde
Wider die Verzweckung des menschlichen Lebens

A. Theologisch - ethische Gesichtspunkte: Kein Leben in Anführungszeichen

1. Christliche Ethik betrachtet jeden Menschen als ein von Gott in seinem Bild geschaffenes Wesen, das auf seinen Schöpfer hin angelegt ist. Sie versteht jeden Menschen als präexistent in Gottes Gedanken. Christliche Ethik begreift die Menschenwürde darum als eine dem Menschen von Gott zugeeignete Würde, die er nicht als Eigenschaft besitzt, sondern die ihm als „Außenschaft“ von seinem Schöpfer zugesprochen ist. Das bedeutet, daß die Würde des Menschen genauso unverdient wie unverlierbar ist und sich weder beweisen noch darstellen muß. Vor allem aber bleibt sie unteilbar. Sie erstreckt sich nicht nur auf die geistige Innenseite des Lebens. Die Ehrfurcht vor dem Leben bzw. sein besonderer Schutz ist von der Zeugung an in jeder Phase seiner Entwicklung und auf jeder Stufe seiner Entfaltung gleich geboten.

2. Das von Gott gestiftete Personsein des Menschen ist für christliche Ethik nicht an Eigenschaften und Qualifikationen wie z.B. Selbständigkeit, Eigenständigkeit oder Selbstbewußtsein zu binden. Es ist überhaupt von keinen psychologischen, soziologischen oder medizinischen Vorgaben ableitbar. Wenn die Würde und das Lebensrecht des Menschen von Eigenschaften abhängig gemacht wird, dann werden Entwicklungsstufen, die der Mensch durchmacht, zu Kriterien, die über sein Lebensrecht entscheiden. Vom Fehlen von Persönlichkeitsmerkmalen darf nicht auf den Verlust des Personseins rückgeschlossen werden. Und selbst hinter einer zerbrochenen Persönlichkeit ist die von Gott geschaffene und geliebte Person in ihrer einmaligen und unverlierbaren Würde zu sehen und entsprechend zu achten.

3. Weil sich die Würde des Menschen auf alle seine Entwicklungsstufen erstreckt, menschliches Leben also immer gleich schützenswert ist, darum darf das menschliche biologische Leben nicht als Experimentiermaterial der Gentechnik mißbraucht werden. Auch wenn der Mensch nicht von Anfang an voll entfaltetes, subjekthaftes, personales Menschsein lebt, kann er in keiner Entwicklungsphase nur als Mittel zum Zweck betrachtet und verwendet werden. Die Würde des Menschen verträgt keine Bedingung und Verzweckung. Und Ehrfurcht vor dem Leben kann es nur als Ehrfurcht vor dem ganzen Leben geben. Es gibt kein Leben in Anführungszeichen.

4. Weil der Mensch nach christlicher Ethik sein Leben nicht selbst begründet und identifiziert, sondern es in der Beziehung zu Gott empfängt, darum ist er gerufen, die Fremdbestimmung seines Lebens als eines auf Gott hingeordneten anzunehmen, und damit seine eigene Begrenztheit  zu erkennen und anzuerkennen. Leben beginnt in der Passivität, die durch die Aktivität anderer bedingt ist. Theologisch gesprochen setzt Gott und schenkt Gott das Leben. Mensch ist der Mensch im Angesicht Gottes. Das Leben mit seinem Anfang und seinem Ende ist der Verfügungsgewalt des Menschen entnommen. Durch die Nichtannahme dieser Begrenztheit und die Verweigerung allen passiven Erleidens bedroht der Mensch die Humanität durch Selbstüberhebung und Selbstüberschätzung.

5. Zur Begrenztheit des menschlichen Lebens gehört auch, daß es sich mitmenschlichen Beziehungen verdankt. Das menschliche Dasein ist ein Sein in Beziehungen, das bestimmt ist von Abhängigkeit und Selbstbestimmung. Aus dieser Spannung ist der Mensch nicht zu lösen. Als fundamentale Grundstruktur des Mensch- und Geschöpfseins begründet diese Spannung vielmehr eine Ethik der Fürsorge. Für  diese Ethik der Fürsorge beginnt oder endet die Achtung vor der menschlichen Würde nicht mit der Achtung der Autonomie, sondern mit der Achtung vor dem Leben, das mehr ist als Freiheit, weil das Leben Freiheit erst ermöglicht und umfaßt.

B. Gesellschaftspolitische Gesichtspunkte: Autonomie nicht ohne Fragezeichen

6. In der gegenwärtigen Gesellschaft prägen die freie Selbstverwirklichung nach eigenen Lebensvorstellungen und das Streben nach persönlichem Glück das Verständnis vom Sinn des Lebens und von einem menschenwürdigen Leben. Der Mensch will sein Leben nicht mehr empfangen und erleiden, sondern er will es durch sein freies Handeln möglichst in allen seinen Phasen selbst frei bestimmen. Menschenwürde wird darum inhaltlich primär von der Autonomie des Menschen her verstanden, so daß die Achtung der Menschenwürde immer mehr mit der Achtung seiner Selbstbestimmung zusammenfällt. Diese Selbstbestimmung und mit ihr dann die von ihr abgeleitete Würde des Menschen gelten dabei als aufweisbare und feststellbare Sachverhalte.

7. Durch gesellschaftliche Entwicklungen wird das menschliche Leben immer mehr in die auch sonst vorherrschende Berechnung von Kosten und Nutzen mit hineingezogen. Das Leben muß sich in seinem Dasein rechtfertigen. Das Leben ist nicht mehr schon allein dadurch gerechtfertigt, daß es ist, gerechtfertigt also vor aller Selbstverwirklichung und autonomen Sinnstiftung. Anhand der Ziele, die eine säkulare Gesellschaft vorgibt, muß das Leben nachweisen, daß es sich selbst verwirklichen und sein Glück selbst herstellen kann. Auf diesem Hintergrund entsteht ein Zwang zum gesunden und autonomen Leben, das allein die Gesellschaft nicht ungebührlich belastet.

8. Die Forderung nach aktiver Sterbehilfe z.B. ist Ausdruck einer Radikalisierung der Freiheit zu einer Autonomie, die die letztlich immer bleibende Abhängigkeit von der Körperlichkeit, der Natur, der Umwelt, den Mitmenschen aufheben und das Leben nur sich selbst verdanken möchte. Die Herausforderung leidvollen Alterns und Sterbens ist aber eine ganz andere als die, im Sterben seine autonome Selbstbestimmung durchzuhalten, nämlich die, sich mitsamt seiner Freiheit loszulassen auf fürsorgliche Menschen und auf Gott hin. Gerade im Verzicht darauf, selbst vorweg zu entscheiden, wann ein Leben untragbar ist, und erst recht, wann es unwürdig ist, bewährt sich Humanität und Freiheit im Glauben, der von der Geborgenheit in Gott getragen ist.

9. Der Zwang zum gesunden und autonomen Leben erzeugt aber gleichzeitig das Gegenbild eines glücklosen und lebensunwerten Lebens und führt im Endeffekt zur Bestreitung des Lebensrechts derjenigen Menschen, die ihre Interessen nicht mehr autonom durchsetzen können. Aus der Verabsolutierung des diesseitigen Lebens und der Gesundheit resultiert die Alternative von Heilen oder Vernichten. Ein rein rationalistisches, empirisches, der ökonomischen Vernunft entsprechendes Menschenbild führt in letzter Konsequenz dazu, daß man Menschen mit abnehmender Leistungsfähigkeit zugleich immer weniger Leistungen zukommen läßt. Es führt auch dazu, daß man Erhaltung ihres Lebens denen ganz vorenthalten darf, deren Leben für sie selbst oder für andere zur dauernden, unerträglich schweren Last und Zumutung wird. Und es führt dazu, daß man noch nicht zur Selbsttätigkeit fähiges Leben auch als Mittel zum Zweck, etwa zum Zweck wissenschaftlicher, therapeutischer Interessen gebraucht und verbraucht.

10. Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich aber weniger am Grad der Ausprägung und Lebbarkeit eines Ethos der Autonomie und daran, ob sie diese oder jene Krankheit und Behinderung besser medizintechnisch oder heilpädagogisch lindern, oder inwieweit sie die Geburt kranker Menschen verhindern kann. Sie zeigt sich vielmehr daran, wie eine Gesellschaft mit denen umgeht, die unheilbar und ihr eine Belastung, ein Hindernis für maximales Wohlergehen sind. Humanität erweist also darin, wie das Ethos der Fürsorge und der Solidarität mit den Schwächsten ohne eigene Freiheit Grundlage gesellschaftlichen Handelns ist. Eine Gesellschaft darf nicht der Fiktion von der durchgehenden Planbarkeit des Lebens verfallen, sondern muß bereit und fähig bleiben, leidvolles Geschick zu tragen und das Leid anderer mitzutragen. Eine Ethik der Autonomie, die nicht untergeordnet ist unter eine Ethik der Fürsorge und des Lebenschutzes für alle Glieder der Gesellschaft, insbesondere die schwächsten, wird schnell zur „Humanität“ ohne und gegen den schwachen Mitmenschen. Aus dem Recht auf Selbstverfügung wird dann ein Recht auf Verfügung über das Leben anderer, bis hin zu seiner Vernichtung. Die Freiheit aber, die nur sich selbst schützt, führt zur Herrschaft der Starken über die Schwachen und letztlich zur Vernichtung der Schwächsten.

C. Praktisch - technische Gesichtspunkte: Konsequenzen mit Rufzeichen

11. In Österreich gibt es einen unterschiedlichen gesetzlichen Schutz für menschliches Leben im embryonalen Stadium. Embryonen in vitro sind wesentlich besser geschützt als Embryonen in vivo. In schwerer Diskriminierung sind kranke Embryonen in vivo gar nicht, und gesunde erst ab Beginn des zweiten Schwangerschaftstrimesters geschützt. Leider ist zu befürchten, daß dieser Widerspruch in Richtung auf Lockerung des Embryonenschutzes aufgelöst wird. Denn wenn es freigestellt ist, fortentwickelte Embryonen bis zum Abschluß des ersten Schwangerschaftstrimesters töten zu lassen, ist dauerhaft nicht zu verbieten, viel weniger entwickelte, durch künstliche Befruchtung entstandene Embryonen zum Zweck der Gewinnung embryonaler Stammzellen zu instrumentalisieren. Ihre therapeutische Nutzung erscheint nicht nur logisch, sondern auch ethisch auf alle Fälle besser als ihre Vernichtung, allerdings nur weil mit einer Ethik der Autonomie die schiefe Ebene der Verfügung über menschliches Lebens bereits betreten war.

12. In dieser Ethik der Autonomie kann, ja soll auch von einer an sich unmoralischen Handlung profitiert werden, wenn vorher verantwortlich eine Güterabwägung stattgefunden hat. Ein ethischer Konflikt wird voraussgesetzt, obwohl keine Gebotekollision vorliegt. So bekommt die Möglichkeit, Gutes zu tun, ein Übergewicht gegenüber dem Lebensschutz. Neue Diagnoseverfahren und Therapiemöglichkeiten wie pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik bestärken in der Unfähigkeit, mit leidvollem Schicksal anders umzugehen, als es technisch zu beseitigen. Und gleichzeitig sinkt die Toleranz gegenüber Menschen, die den herrschenden Vorstellungen von einem glücklichen Leben nicht entsprechen.

13. Wenn mehr technische Herrschaft über die Natur aber neue Sachzwänge und Risiken schafft, ist das nicht als Fortschritt in der Menschlichkeit zu werten. Durch die prädiktive Medizin werden schon körperlich noch gesunde Menschen zu Kranken, sind genetisch verwandte Personen von Diagnosen unweigerlich mit betroffen, wird die individuelle Arzt - Patient - Beziehung gesprengt, und ist das Recht auf Nichtwissen eigener Krankheitsrisiken sowie der Schutz vor diesbezüglichem Datenmißbrauch bedroht.

14. Bei der Präimplantationsdiagnostik als Zeugung auf Probe ist das primäre Ziel die Selektion eines kranken Embryos vor der Schwangerschaft. Die Notwendigkeit, eine Lebensurteil zu fällen, wird dabei durch ein bewußtes medizinisches Handeln erst herbeigeführt. Die ethischen Probleme verschärfen sich also.  War durch die Zulassung der künstlichen Befruchtung das Recht auf ein Kind bejaht worden, so wird dieses Recht durch die Präimplantationsdiagnostik nun ausgeweitet zu einem Recht auf ein gesundes Kind unter Einschluß eines Rechts auf die Selektion und Tötung eines kranken Embryos. Dem Selbstbestimmungsrecht und den Interessen der Frau bzw. des Paares wird so eindeutig Vorrang eingeräumt vor dem Lebensschutz für den Embryo. Dies widerspricht einer christlich - ethischen wie auch - noch - der rechtlichen Sicht.

15. Und selbst wenn man zugesteht, daß eine Schwangerschaft auf Probe das „größere Übel“ wäre, ist zum Zweck ihrer Vermeidung keinesfalls das „geringere Übel“ der Zeugung auf Probe notwendig und von daher gerechtfertigt. Ein schicksalhafter Konflikt, in dem Leben gegen Leben abzuwägen wäre, liegt ja nicht vor, weil die Konkurrenz zwischen Leben und Leben durch eine bewußte menschliche Handlung erst hervorgerufen wurde. Die einzige ethisch angemessene Antwort auf das Wissen um ein hohes Risiko für die Zeugung eines behinderten Kindes ohne Bereitschaft, solch ein Kind auch anzunehmen, ist der Verzicht auf ein Kind. Durch Präimplantationsdiagnostik wird Leben gezielt auf seine Qualität getestet, und bei mangelnder Qualität wird ihm das Lebensrecht verweigert, also die Teilhabe an der Menschenwürde überhaupt abgesprochen. Damit höhlt diese Technik die Verbindlichkeit des Tötungsverbots aus, und bedroht die unantastabare und unverlierbare Menschenwürde.

16. Gottes Schöpfung gerade auch als gefallene, in der Böses ist, das zu bekämpfen ist, ist offen für das helfende und heilende Handeln des Menschen als Mitschöpfer und Kooperator Gottes. Darum ist die Anwendung gentechnischer Methoden aus christlich - ethischer Sicht nicht grundsätzlich abzulehnen. Die Arbeit mit totipotenten embryonalen Stammzellen ist zwar ethisch nicht vertretbar. Jedoch ist die Forschung mit Stammzellen aus dem Nabelschnurblut bzw. dem Knochenmark voranzutreiben und in dem Maße zu fördern, als dadurch die gleichen therapeutischen Effekte möglich scheinen, und für die Gewinnung dieser adulten, pluripotenten Zellen der Weg über totipotente embryonale Zellen offenbar völlig vermeidbar ist. Ziel aber auch solchen Handelns kann nicht die Schaffung eines perfekten Menschen, die Aufrichtung einer heilen Welt, oder die grundlegende Veränderung ihres Bestandes sein. Nutznießer solchen Handelns können immer nur konkrete Menschen sein.

17. Die Achtung der Menschenwürde und der Lebensschutz - insbesondere der schwächsten Menschen - ist ein höherrangiges Gut als die Erfüllung verständlicher Interessen einzelner Menschen an Gesundheit und Lebensglück z.B. auch an einem gesunden Kind. Sie ist auch höherrangig als Forschungsfreiheit, Forschungsinteressen und therapeutische Fortschritte. Wo sich das Streben nach wissenschaftlichem Fortschritt, medizinischer Bemächtigung des Lebens, Gesundheit und leidfreiem Lebensglück zur Infragestellung der Menschenwürde und zur Bedrohung der Fürsorge für die schwächsten Glieder der Gesellschaft auszuweiten droht, muß die Gesellschaft bereit und fähig sein, um der Wahrung der Würde und Rechte der schwächsten Mitmenschen willen auf mögliche wissenschaftliche und therapeutische Fortschritte zu verzichten, und dies durch rechtliche Verbote auch einzufordern.

18. Solange Methoden nicht in die medizinische Praxis eingeführt sind, und daher alle Menschen auf sie verzichten müssen, wird durch solchen Verzicht um schützender Rechte willen auch niemand ungerecht behandelt und in seinen Grundrechten auf freie Lebens- und Familienplanung behindert. Aber die Menschenrechte, die auf der Grundlage einer Ethik der Würde Schutzrechte für die Schwachen formulieren, müssen eindeutigen Vorrang haben gegenüber den Anspruchsrechten von Individuen auf unbehinderte Entfaltung ihrer Interessen.

Pfarrer Lic. Andreas Gripentrog, Radstadt im Juli 2002

Weiterführende Literatur:

U. Eibach, Menschenwürde an den Grenzen des Lebens,
Einführung in Fragen der Bioethik aus christlicher Sicht, Neukirchen - Vluyn 2001
U. Eibach, Gentechnik und Embryonenforschung,
Leben als Schöpfung aus Menschenhand? Wuppertal 2002 
J. Huber, Geheimakte Leben,
Wie die Biomedizin unser Leben und unsere Weltsicht verändert, Frankfurt a.M. 2000
Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz,
Gott ist ein Freund des Lebens,
Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens, Gütersloh 1991