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5. Die Einheit von Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Inspiration

Die volle Menschlichkeit und Geschichtlichkeit des biblischen Wortes und seine Inspiration schließen einander nicht aus. Weder muß die Inspirationslehre aufgegeben werden, noch muß die Menschlichkeit und Geschichtlichkeit der Bibel ignoriert werden. Vielmehr hat Gott Menschen mit ihren Gaben und Eigenarten, aber auch mit ihren Beschränktheiten und Schwächen in einer jeweils ganz bestimmten geschichtlichen Situation seines Wirkens dazu erwählt und durch seinen Geist befähigt, sein Wort zu sagen. Das Menschliche und Geschichtliche an ihrem Wort wird von Gott gerade nicht ausgeschaltet, sondern bejaht und in Dienst genommen. Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Inspiration des Heiligen Geistes gehören im biblischen Wort unlösbar zusammen und bezeugen damit wiederum die Herablassung Gottes.

Der einzigartigen und einmaligen heilsgeschichtlichen Tatsache der Menschwerdung des ewigen Got- tessohnes entspricht die einzigartige und einmalige heilsgeschichtliche Tatsachenübermittlung der Augen- und Ohrenzeugen Jesu (Gal. 2, 7 Hebr. 13, 7 1. Petr. 1, 12). Und nicht das ist die Frage, ob die Schriften der Bibel nach ihrem Selbstzeugnis inspiriert sind, sondern, was gemeint ist mit dem Begriff „Inspiration“ (vgl. 2. Tim. 3, 16 2. Petr. 1, 21). Die Inspiration der biblischen Autoren ist nicht nur Personalinspiration, auch nicht nur Realinspiration, sondern als Verbalinspiration (Mt. 5, 17f Joh. 10, 35) vor allem Ganzinspiration im Sinn einer Inverbation des Heiligen Geistes als Analogie der Inkarnation Christi. Solche Ganzinspiration ist auf den Urtext bezogen, darf nicht mechanisch als Diktatinspiration mißverstanden werden und führt deshalb nicht zu einer atomistischen Betrachtungsweise der Bibel, weil diese keinen Kodex verfügbarer Wahrheiten darstellt, die zu gebrauchen wären wie mathematische Formeln. Ein derartiger Offenbarungsrationalismus, der durch bestimmte Zusammenstellungen stets griffbereite, ewige Wahrheiten eruiert, übersieht, daß die Schriftautorität zuerst die Personautorität des in der Bibel redenden Gottes ist. Die Betonung der Ganzinspiration bedeutet nicht, daß jeder Text der Bibel das gleiche Gewicht hat und schließt die Bejahung fortschreitender, progressiver und kumulativer Offenbarung ein. Die Plenarinspiration bekräftigt lediglich, daß jedes Wort der Schrift vorhanden ist, weil Gott es gewollt hat.

Ganzinspiration meint, daß es gerade die konkrete biblische Offenbarung ist, die Gottes Geist geschaffen hat. Gottes Anrede ist eben nicht auch anderswo zu finden. Gottes Wort läßt sich darum nicht besser ausdrücken, als es in der Heiligen Schrift geschehen ist (1. Thess. 2, 13 1. Kor. 2, 13). Weil die Schreiber der Bibel im Hinblick auf ihren Stoff und die Art und Weise, ihn darzubieten, inspiriert waren, darum sind ihre Schriften vollkommen verläßlich, verbindlich, wirksam, klar, deutlich und ausreichend für die Wegweisung des Menschen zum rettenden Heil.

„Sacra scriptura est per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnia probans, iudicans et illuminans.“ (M. Luther in der Assertio omnium articulorum WA VII, 97: „Die Heilige Schrift ist in sich selbst ganz gewiß, einfach, offen, legt sich selbst aus, billigt, richtet und erleuchtet alles.“) Luthers perspicuitas (Durchsichtigkeit) und claritas (Klarheit) der Schrift ergibt sich aus ihrer Ganzinspiration und bedeutet nicht nur die besondere Beachtung des Literalsinnes, sondern auch ihre prinzipielle Vorordnung vor den menschlichen Ausleger.

M. Luther hat sein Schriftverständnis nie prinzipiell programmatisch und systematisch dargelegt. Aber es war zu seiner Zeit auch noch nicht umstritten. Luther setzt grundsätzlich die Inspiriertheit der Heiligen Schrift voraus. Sie ist „des heiligen geists eigen, sonderlich buch, schrift und wort.“ (WA 38, 340 vgl. WA 54, 3.474)

Der Heilige Geist redet nicht nur in den zentralen Aussagen der Schrift, sondern auch in ihren sprachlichen Eigentümlichkeiten (WA 40, III, 254: „Denn nicht nur die Vokabeln, sondern auch die Diktion ist göttlich.“) Deshalb ist Wort Gottes und Heilige Schrift für Luther identisch. Der Buchstabe der Schrift ist auch und gerade in seiner Äußerlichkeit Gottes Wort, da das Wort des Geistes zuerst und vor allem im „verbum externum“ zum Ausdruck kommt. So kann Luther sagen: „Die heilige Schrift ist Gottes Wort, geschrieben und (das ich so rede) gebuchstabet und im buchstaben gebildet, gleich wie Christus ist das ewige Gottes wort, in die Menschheit verhuellet.“ (WA 48, 31)

Bei Luther ist die Inspiration mit der Irrtumslosigkeit der Schrift verbunden. Er bekräftigt die Autorität des „verbum Dei infallibile (des unfehlbaren Wortes Gottes).“ (WA 2, 279) Immer wieder hält er an der einzelnen Vokabel fest: „denn wer ein eintzel Gottes wort veracht, der achtet freylich auch keines nicht gros.“ (WA 26, 450) Die menschlichen Schreiber des Wortes Gottes sind infolge ihrer Inspiriertheit „infallibiles doctores (unfehlbare Lehrer).“ (WA 40, I, 173f) Eine direkte Folge der Inspiration ist die Klarheit der Schrift. Dunkelheiten liegen nicht im Bereich der Sache, sondern der Sprache und des kognitiven Verstehens. Die dunklen Stellen sind aus dem Vergleich mit den hellen zu deuten. Wenn man akzeptiert, daß die Bibel Gottes Wort ist, dann steht nicht die Frage im Mittelpunkt, wie wahrscheinlich die Lösung ist für Fragen, die angebliche Irrtümer der Bibel aufwerfen, sondern dann wird die Wahrscheinlichkeit der vorgeschlagenen Lösung gegen die Wahrscheinlichkeit abgewägt, daß Gott etwas Falsches gesagt hat. Die mangelnde Sichtbarkeit der Stimmigkeit von Bibeltexten spricht noch nicht automatisch gegen die Realität dieser Stimmigkeit.

Die äußere Klarheit ist von Gott in das Wort der Schrift selbst und in die auf ihr gegründete Verkündigung gelegt. Die innere Klarheit ereignet sich im Herzen dessen, der das Wort im Glauben aufnimmt. und wird als clarificatio scripturae durch den Heiligen Geist geschenkt. Die äußere Klarheit als einsichtige Evidenz hat den Vorrang vor der inneren. Die Tatsache, daß für Luther in der Bibel die viva vox evangelii gehört wird, besagt nicht, daß er den Wortlaut der Bibel als fehlbar ansah. „Es muß unter Christen als vollkommen verbürgt und sicher gelten, daß die Heilige Schrift ein geistliches Licht ist, viel klarer als die Sonne selbst.“ (WA 18, 653) Die Leugnung der Klarheit der Schrift führt automatisch zur Preisgabe des sola scriptura. Wenn die Bibel nicht in sich selbst klar und verständlich ist, benötigt man für eine adäquate Auslegung eine andere, höhere Autorität.

In der heilsgeschichtlichen Linie von Verheißung und Erfüllung ist Jesus Christus zeitlich gesehen die Mitte der Schrift. Davon ging Luther aus, als er das Prinzip „was Christum treibet“ aufstellte und anwandte. Aber dieses Prinzip ist nicht als kritisches Skalpell anzuwenden, um mit seiner Hilfe eine reduktorische Zensur durchzuführen. Die christozentrische Konzentration ist die hermeneutische Richtschnur für die Interpretation der in der Bibel als Einheit gegebenen Offenbarungsgeschichte. Luther war davon überzeugt, daß die ganze Schrift von Christus handelt. H. Bornkamm hat das durch seine Studie „Luther und das Alte Testament“, Tübingen 1948 bestätigt. Er hat also nicht nur die ausdrücklich christologischen Teile der Schrift für verbindlich und unfehlbar gehalten. Vgl. H. Sasse, Was sagt uns Luther über die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift? 1950 S. 314: „Der Satz von der absoluten Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift auch in Dingen, die den Glauben nicht berühren, scheint an Luther einen eindrucksvollen und autoritativen Vertreter zu haben. Es ist nicht schwer nachzuweisen, daß er sich auch für die Richtigkeit der historischen Angaben der Bibel auf die unbedingte Glaubwürdigkeit der Heiligen Schift als des wahrhaftigen, unfehlbaren Gotteswortes berufen hat.“

Die Kanonisierung der biblischen Schriften ist als letzte Stufe der Inspiration anzusehen. Der Kanon ist kein Produkt der Kirche, sondern ein Produkt desselben göttlichen Geistes, der die einzelnen Schriften hervorgebracht hat. Insofern wurde der Kanon nicht von Menschenhand geschaffen, sondern nur von solcher anerkannt. Die Begründung der Schriftautorität geschieht durch die Schrift selbst. Konsequenz solcher Schriftautorität ist, daß die Schrift einzige norma normans (normierende Norm) sein will für das Hören auf Gott, für das Gehören zu Gott und den Gehorsam des Menschen gegenüber Gott. Die Kirche hat die Bibel entweder als ganzheitliche Richtschnur, oder sie hat überhaupt keine Richtschnur mehr. Wenn in der Bibel nur gewöhnliche Menschen reden, dann ist auch Christus keine wirkliche Autorität mehr.